DAS PORTRÄT: Der Musikwissenschaftler und Psychologe Stefan Schaub kämpft gegen den oberflächlichen Musikkonsum

"Mannheimer Morgen", 23.8.2006

So viel klassische Musik war nie: Mozart als Klanggemälde für den Kaffeeklatsch, Vivaldi als Illustration der Zeitungslektüre oder Chopin zur Veredelung eines romantischen Abendessens. Dank der vielfältigen Konservierung von Musik und der nahezu unendlichen Möglichkeiten ihrer Vertonung ist Musik fast allgegenwärtig. Doch die Berieselung mit Klängen hat einen entscheidenden Nachteil: Man nimmt sie irgendwann nur noch als Grundrauschen wahr. Wer Musik hört, hört nicht unbedingt mehr zu.

Dies zu ändern, ist Stefan Schaubs Lebensaufgabe. Der Musikwissenschaftler und -pädagoge sowie Psychologe aus dem badischen Appenweier bietet dem oberflächlichen Musikkonsum seit 1983 mit unverdrossenem Missionsdrang die Stirn. Sein Ziel: der aktive Hörer. Seine Überzeugung: Wer klassische Musik mit einem Wissen um Gesetzmäßigkeiten und Struktur hört, steigert auch den Hörgenuss. Dabei geht Schaub von der Beobachtung aus, dass Klänge in der Wahrnehmung des Hörers verwandelt werden, je nachdem, wovon diese Wahrnehmung geprägt ist. Eine kleine kopernikanische Wende in der Kunst des Musikhörens.

In seinen Seminaren gibt der Musikenthusiast theoretische Kenntnisse über Komponisten und Werke weiter und macht seine Seminarteilnehmer mit den Partituren vertraut. Dabei entdecken sie auch mit Hilfe von Klangbeispielen Aufbau, Bezüge und Verwandlungsprozesse in Sonaten oder Sinfonien. Und sie teilen die Erfahrung, dass ein Werk noch erhabener und kostbarer wirkt, wenn man zuvor seinen Bauplan studiert hat. Wer "mit der Lupe" hört, lernt auch bei sattsam bekannten Werken womöglich noch das Staunen.

Dabei deckt Schaub das ganze Repertoire der Musik vom Mittelalter bis zur Moderne ab. Das Prinzip des aktiven Hörens hilft selbst dabei, sich zeitgenössische Werke zu erschließen. Was zuvor abstrakt erschien, lässt sich auf einmal begreifen und nachvollziehen. "Auch ein Wolfgang Rihm ist nicht vom Himmel gefallen", sagt Schaub hierzu. Selbst Mozart, das Genie, hat schließlich nicht aus der hohlen Hand geschöpft, sondern sich fleißig der musikästhetischen Regeln der Tradition bedient. Wobei Mozart nicht nur für aktive Hörer geschrieben hat: Seine Musik, wie man aus Briefen weiß, sollte Kenner zufriedenstellen wie Liebhabern gefallen.

In seinem Buch "Hören mit Begeisterung", zu dem es vier CDs mit Hörbeispielen gibt, ermöglicht Schaub auch dem Klassikhörer zu Hause den Nachvollzug dessen, was in den Seminaren geschieht. Auch in seiner auf zehn CDs angelegten Reihe "Klassik Kennen Lernen" (neun sind bislang beim Label Naxos erschienen) wird der Hörer zum Seminaristen im eigenen Wohnzimmer. Und vielleicht ein wenig glücklicher, weil er das Haupt- und Seitenthema im Kopfsatz einer Beethoven-Sinfonie nicht mehr nur unbewusst hinnimmt, sondern als Ausdruck des Gegensatzes von Spannung und Entspannung erkennt - und die damit verbundenen Entsprechungen zur menschlichen Psyche.

Dies könnte ein Moment sein, in dem der Hörer sich Musik persönlich aneignet und wahrnimmt, dass Musik nicht für sich allein existiert, sondern sich ein Ohr sucht, das diesen Tönen ein Zuhause gibt.

Uwe Rauschelbach