Der Musikwissenschaftler Stefan Schaub erklärt in Achern Wagners „Walküre“

"Mittelbadische Presse" vom 18.4.2008

Im Sturm, bei Gewitterregen und Kälte hetzt ein Gejagter durch den Wald, waffenlos von den Feinden verfolgt. Erschöpft bricht er in der erstbesten Behausung zusammen, eine junge Frau nimmt sich seiner an, er scheint gerettet. Doch es ist das Haus seines Feindes, der ihn bald als den Gesuchten erkennt. Wehwalt nennt sich der Leidgeprüfte –, doch wer er in Wirklichkeit ist, raunen Celli und Kontrabässe im „wissenden Orchester“: Siegmund, der Sohn Wotans, dessen Walhall-Motiv in Hörnern und Tuben wortlos den Hörern enthüllt, welche Herkunft hinter dem verwundeten Helden sich auftut.

Diese Zusammenhänge vermittelte Dr. Stefan Schaub in der Veranstaltung „Unter der Lupe“ den vielen Zuhörern, die gekommen waren, um sich Richard Wagners Musikdrama „Die Walküre“ erklären zu lassen. Sie wurden dabei umfassend vorbereitet auf den Besuch der Oper in Straßburg.

Schaub gab als Musikwissenschaftler und Diplompsychologe in einfacher, mitunter drastischer Sprache Hilfestellung zum tieferen Verständnis. Mit der „Walküre“ hatte er ein Drama, reich an spannenden psychologischen Aspekten, ausgewählt. Nicht nur mit Wagners Revolutionserlebnis von 1849 (als man ihn aus Deutschland verjagte) verknüpfte er die Handlung. Der Interpret leuchtete auch in die Entwicklung der Seele, in die sinnlichen Qualitäten der Musik. Er öffnete das Ohr für den Wandel vom heftigen, dissonantischen Sturm-Vorspiel zu den wärmenden Klängen des Tenor-Gesangs „Winterstürme wichen dem Wonnemond“. Im Wandel der Töne deutete er das entdeckende Zutrauen, die wachsende Zuneigung, die beseligende und schließlich befreiende Liebe von Siegmund und Sieglinde.

Ganz offensichtlich folgt der Referent nicht den Kitsch-Vorwürfen, die nach 1945 gegen Wagners Dichtungen erhoben wurden. Vielmehr teilt er die Bewunderung für den visionären Poeten, der lange vor S. Freud und C. G. Jung tiefenpsychologische Entdeckungen in ein Gefüge aus Tönen und Worten gebracht hatte. Am zweiten und dritten Akt hob Schaub hervor, wie Wagners Sonde Konflikte im Menschen erfühlt, für die es damals noch keine Fachbegriffe gab. Welcher innere Prozess läuft in Wotan ab, wenn er frohgemut „Brünnhilde stürme zum Kampf“ befiehlt, bis ihn die Gattin unerbittlich mit seinem heillos verstricken Vertrags-Geflecht konfrontiert? „Ich unfreiester aller!“, verzweifelt er. Die Zuhörer vernahmen das anrührende Bassklarinetten-Solo, mit dem Brünnhilde eine geradezu therapeutische Instanz gewinnt, ihn aus seinem Abgrund von Depression löst, ihn verleitet, sein Innerstes preiszugeben.

Da wurde den Teilnehmern auch klar, dass im dritten Akt sich ein zweiter Abgrund auftut: Der „im Zwange schmerzlich entzweite“, schizophrene Vater und Gott, wie die Tochter ihn plötzlich in beklemmender Klarheit vor Augen hat. Schließlich gewährte der Interpret zum Abschluß seines dreieinhalbstündigen Vortrags, der bis zuletzt spannend geblieben war, noch den aufschlussreichen Blick auf eine Partiturseite: Da war zu verfolgen, wie der „Feuerzauber“ am Ende mit Hilfe von Zweiunddreißigstel-Quintolen in den hohen Violinen als „hineinkomponierte Unschärfe“ impressionistisch aufflackerte.

Albrecht Zimmermann