Der Musikwissenschaftler Stefan Schaub referierte

"Achern-Rench-Zeitung" vom 11.7.2014

Vor dem Besuch der Oper am kommenden Samstag lauschten die Zuhöierterer am Montag im vollbesetzten Josefssaal den Erklärungen der Meistersinger-Partitur durch den überregional bekannten Musikwissenschaftler Stefan Schaub. Die dreistündige gong-Veranstaltung vermittelte, was kein noch so dicker Opernführer bietet: die Konzentration nicht auf die Handlung der Oper, sondern auf Eigenart, Merkmale, Stilerrungenschaften der Musik.

So standen nicht Evas zwiespältige Erlebnisse zwischen den drei Männern Stolzing, Beckmesser und Hans Sachs im Mittelpunkt, nicht die bedenkliche Rolle des Vaters, der die Tochter als ersten Preis auslobt, und nur am Rande der Klamauk der opera buffa. Mit Stefan Schaub als Interpreten haben alle Klassikfans die Möglichkeit, zu erfahren, wie die Schönheiten und der Rang unvergänglicher Werke zustande kommen.

Ungeheure Spannweite

Nicht zufällig konfrontierte er die altväterlich prunkvollen ersten Takte der »Meistersinger« mit dem rätselhaft-sehnsuchtsvollen Beginn des »Tristan«: Sofort und in wenigen Takten wurde den Besuchern die ungeheure Spannweite von Wagners Tonsprache bewusst – zugleich erfasste das Ohr den Gegensatz zwischen »braver«, diatonisch-regelgerechter Tradition und einer ins unendliche Gefühl drängenden Musik aus (damals) revolutionären chromatischen Schritten.

Zwei Welten bestimmen den »Meistersinger«-Klang: Erlernbare Tonsetzer-Kunst und die tönende Weite romantischer Empfindungen. Man muss Stefan Schaub erlebt haben, wie er mit der Hand in der Luft den ernsten Choral einerseits und die schmachtenden Motive Stolzings und Evas andererseits nachzeichnet, immer in Kontakt mit den Stellschrauben seiner Stereo-Anlage, mit der die Dresdner Staatskapelle unter Karajan den Raum erfüllt – manchmal wiederholend oder die Feinheiten der ungemein vielstimmigen Partitur erhellend. Da erschienen die Holzbläser-Kantilenen der Liebenden und das wuchtige tscham-dadadaa des Nürnberg-Motivs in ihrer tieferen Bedeutung.

Dass Wagner lang vor Sigmund Freud und vor der Begründung wissenschaftlicher Psychologie in seinen Musikdramen die Kräfte des Unbewussten zu Tönen bringt, wurde am Montagabend so beschworen: »Die Psychologie der Kreativität ist Handlungselement von Text und Musik der Meistersinger-Partitur« – und der Referent wählte nach dem misslungenen »Casting« des jungen Genies Stolzing als krönendes Beispiel die Entstehung und Darbietung des Quintetts von Eva, Hans Sachs, Stolzing, David und Magdalene aus dem dritten Akt, eines der schönsten Beispiele für Ensemble-Gesang der Musikgeschichte.

Warum sind die Schaub-Abende in Achern so erfolgreich? Es ist wohl die auf Verständlichkeit bedachte, lebhafte Ausdrucksweise dieses sympathisch uneitlen Wissenschaftlers, der immer wieder die Entdeckerfreude in seinem Publikum weckt. Und welche Oper gäbe dazu mehr Gelegenheit als dieses Werk, das Gustav Mahler »die Zusammenfassung abendländischer Musik« nannte...!

Albrecht Zimmermann